Von Christiane Möschle
„Der schönste Nebeneffekt des Romanschreibens ist für mich, dass man sich ständig in andere hineinversetzt. Und irgendwann versteht man alle, dafür muss man sie noch nicht einmal mögen. Ein schöner Zustand.“ Jackie Thomae
Auch in diesem Jahr haben wir das Buch für die Stadt Köln besprochen. 2021 hat die Jury einen Roman der Journalistin und Schriftstellerin Jackie Thomae ausgesucht, ihren zweiter Roman.
Jackie Thomae stellt darin die Frage, wie wir zu den Menschen werden, die wir sind. Sie stellt das Leben zweier Halbbrüder gegenüber. Da ist zum einen Mick, ein charmanter Hasardeur. Er lebt ein Leben auf dem Beifahrersitz, frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück – bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Und dann ist da Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat. Er ist frei, aus sich zu machen, was er will: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und steht plötzlich als Aggressor da – ein prominenter Mann, der tief fällt. Brüder erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Die Fragen, die sich ihnen stellen, sind dieselben. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein. Und doch gibt es Parallelen.
Oberflächlich betrachtet, bezeichnet man den einen, Mick, vermutlich als Hallodri und den anderen, Gabriel, als Streber, doch Thomae gelingt es, dass man sich mit beiden näher befasst und tiefer in die Charaktere einsteigt. Und wenn man in dieses Buch eintaucht, dann begreift man, warum Menschen so sind, wie sie sind, dann versteht man, was sie tun.
Micks Geschichte wird aus der Außenperspektive erzählt und beginnt in seiner Jugend als er 15 Jahre alt ist. Gabriels Geschichte wird in Form von Szenen erzählt, in denen abwechselnd er und seine Frau in der Ich-Form erzählen. „Die Brüder sollten sich in der Erzählweise und im Klang stark unterscheiden, damit sie nicht verschwimmen“, so Jackie Thomae.
Thomae nimmt keinerlei Wertung vor, sie erzählt auf hervorragende Weise einfach von zwei unterschiedlichen Menschen, mit ganz verschiedenen Lebensphilosophien … sie blickt großherzig auf zwei Brüder. Das ist die Stärke dieses Buchs und zeugt auch von der Größe der Autorin.
Eines der besten zeitgenössischen Bücher, die ich gelesen habe, bestes Lesevergnügen, das noch lange nachhallen wird. Glückwunsch an die Jury und vor allem an Jackie Thomae.